Wahlprüfstein Europawahl 2024

Flüchtlingshilfe Bonn e.V. (im Namen von insgesamt 5 Organisationen)

1

Der Versuch, Migration zu steuern, kann in der EU nur gemeinsam angegangen werden. Kann die neue Gemeinsame Europäische Asylpolitik (GEAS) Ihrer Meinung nach unter Wahrung der menschen- und asylrechtlichen Standards, etwa der Rechte und des Schutzes von Kindern, umgesetzt werden?
Nein. Das reformierte GEAS basiert geradezu auf der Verletzung von Menschen- und Flüchtlingsrechten, und die Rechte von Kindern werden sehenden Auges missachtet. Dies geschieht im Rahmen einer Politik der Abschreckung mit dem Ziel, die Zahl der Geflüchteten in Europa um nahezu jeden Preis zu senken. Die Wahrung der Menschenrechte erfolgt dabei allenfalls noch als Lippenbekenntnis. Bei der Abschottung arbeitet die EU zunehmend mit undemokratischen Regimen zusammen und legitimiert und stabilisiert so deren Herrschaft - und wirkt damit an der Schaffung von weiteren Fluchtursachen mit. Auch Kinder auf der Flucht werden künftig an den EU-Außengrenzen über Monate hinweg faktisch inhaftiert, für ein so genanntes Grenzverfahren, das keine faire Asylprüfung ermöglicht. Die Praxis in den EU-Hotspots auf den griechischen Inseln zeigt, dass Kinder unter solchen gewaltvollen Bedingungen häufig traumatisiert werden, nicht wenige Kinder versuchen sogar, sich das Leben zu nehmen - das ist die beschämende Zukunft des EU-Asylsystems! Vor allem die beschlossene Drittstaatenregelung trägt zur Verletzung menschen- und asylrechtlicher Standards bei. Denn Schutzsuchende sollen künftig auf Länder außerhalb der EU verwiesen werden, selbst wenn diese die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet haben und dort ihre grundlegenden sozialen Rechte nicht garantiert sind.
Themen: Flucht & Asyl

2

In den in Einrichtungen zur Unterbringung und Registrierung von Geflüchteten an den EU-Außengrenzen kam es zu erheblichen Problemen, z.B. bei der Verfahrensqualität oder aufgrund der Überfüllung der Lager. Kann dies Ihrer Ansicht nach in den zukünftigen geschlossenen Einrichtungen vermieden werden?
Nein. Die erheblichen Missstände in den so genannten Hotspots der EU müssen als Teil einer Abschreckungspolitik begriffen werden. Die schlechten Lebensbedingungen und Anerkennungschancen sollen weitere Geflüchtete von der Flucht in die EU abhalten. Selbst als die Lager auf den griechischen Inseln völlig überfüllt und Menschenrechtsverletzungen offenkundig waren, wurde es den Menschen nicht ermöglicht, die Inseln zu verlassen. Dieses menschenrechtswidrige Kalkül der Abschreckung wird auch für die künftigen Grenzlager gelten, selbst wenn Zelte und Schlamm durch Beton und Stacheldraht ersetzt werden. Die Verfahrensmängel sind eine (gewollte) Folge des Grenzverfahren-Konzepts: Durch die isolierte Lage und Abgeschottetheit der Lager haben dort festgehaltene Menschen keinen oder nur einen sehr eingeschränkten Zugang zu Beratungsstellen, Nicht-Regierungsorganisationen, Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, Gerichten. Dabei bräuchten sie in ihrer Ausnahmesituation umso mehr Hilfe, um sich nicht in den Stricken des EU-Asylrechts zu verfangen. Fehlentscheidungen und die Versagung von eigentlich gebotenem Schutz werden die absehbare Folge der Schnellverfahren an den EU-Außengrenzen sein.
Themen: Flucht & Asyl

3

Die GEAS sieht Grenzverfahren für bestimmte Personengruppen vor, z.B. für Menschen aus Ländern mit einer europaweiten Schutzquote von unter 20 Prozent, ebenso bewachte Auffanglager, in denen sie bis zum Abschluss des Verfahrens untergebracht werden. Ist das mit den europäischen Werten vereinbar?
Geflüchtete werden an den Grenzen der EU nicht wie hilfsbedürftige Menschen – oder Träger*innen der Europäischen Menschenrechte –, sondern wie "Kriminelle" behandelt. Sie werden als Bedrohung angesehen und in Lager gesperrt, um möglichst viele von ihnen schnell wieder zurückschicken zu können. Das ist eine Schande für die EU und mit den Menschenrechten und grundlegenden humanitären Werten unvereinbar. Auch Familien mit Kindern und besonders vulnerable Personen, etwa traumatisierte, queere oder behinderte Menschen, sollen in den Grenzlagern festgehalten werden. Vom neuen Grenzverfahren werden auch offenkundig schutzbedürftige Flüchtlinge mit hohen Anerkennungschancen betroffen sein. Etwa wenn eine Situation der Instrumentalisierung von Geflüchteten behauptet wird, aber auch bei der Anwendung der neuen Drittstaatenregelung. Hierbei sollen Schutzsuchende unabhängig von ihren Fluchtgründen und ohne eine inhaltliche Prüfung ihres Asylgesuchs in Länder außerhalb der EU abgewiesen werden. Die Linke stellt sich gegen diese Politik der Entrechtung und Kriminalisierung von Geflüchteten, die den viel beschworenen Werten der EU Hohn spricht.
Themen: Flucht & Asyl

4

Im neuen GEAS gibt es einen „Solidaritätsmechanismus“, d.h. Mitgliedstaaten müssen entweder Geflüchtete aufnehmen, finanzielle Beiträge leisten oder Personal entsenden. Wird dieser Mechanismus Ihrer Meinung nach anders als in der Vergangenheit bei der Aufnahme von Flüchtlingen greifen?
Zunächst: Der Gebrauch des Begriffs der "Solidarität" im Kontext der GEAS-Verhandlungen ist meist zynisch: Solidarität wird nicht mit den Schutz suchenden Menschen geübt, im Gegenteil. Solidarisch sollen die Mitgliedstaaten vor allem untereinander sein, als Solidaritätsmaßnahmen gelten dabei z.B. auch Unterstützungsleistungen bei Abschiebung und Abschottung. Das lehnen wir ab. Der beschlossene Solidaritätsmechanismus ermöglicht es unwilligen Mitgliedstaaten, sich der Übernahme von Asylsuchenden zu entziehen. Damit ist die EU vor der offensiven Anti-Asyl-Haltung insbesondere osteuropäischer Mitgliedstaaten (Ungarn u.a.) eingeknickt. Es steht zu befürchten, dass es zu wenige Umverteilungsangebote geben wird, um überforderte Mitgliedstaaten wirksam zu entlasten. Äußerst widersprüchlich ist, dass das unsolidarische Grundprinzip der Dublin-Verordnung beibehalten wurde, d.h. dass im Regelfall weiter diejenigen Mitgliedstaaten für die Asylprüfung zuständig sind, in die Schutzsuchende zuerst eingereist sind (etwa: Italien, Griechenland). Damit werden Länder mit relevanten Außengrenzen auch künftig strukturell benachteiligt, Ausgleichsmaßnahmen werden vermutlich unzureichend sein. Die Linke hat sich seit Jahren für eine grundlegende, tatsächlich solidarische Reform des Dublin-Systems eingesetzt, bei der die berechtigten Wünsche und Interessen der Schutzsuchenden in den Mittelpunkt gestellt und bei der Bestimmung des zuständigen Staates maßgeblich berücksichtigt werden.
Themen: Flucht & Asyl

5

Die GEAS-Reform sieht die Ausweitung des Konzepts ‚sicherer Drittstaaten‘ sowie die Absenkung der Kriterien vor, die ein Staat erfüllen muss, um als „sicher“ zu gelten. Dadurch können Menschen auch ohne Prüfung ihrer tatsächlichen Fluchtgründe in diese Länder abgeschoben werden. Unterstützen Sie das
Die Ausweitung der sichere Drittstaaten-Regelung ist ein direkter Angriff auf die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der von der Linken scharf zurückgewiesen wird. Die GFK setzt auf internationale Zusammenarbeit beim Flüchtlingsschutz, mit der Drittstaatenregelungen soll die Aufgabe der Flüchtlingsaufnahme hingegen einseitig auf Länder außerhalb der EU übertragen werden, die jetzt schon die meisten Geflüchteten versorgen. Damit versuchen die wohlhabenden Industrienationen der EU, sich ihrer Verantwortung für den internationalen Flüchtlingsschutz zu entziehen. Das ist inakzeptabel, auch weil die EU in vielfältiger Weise für die Schaffung von Fluchtursachen verantwortlich ist (Stichpunkte: unfaire Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, postkoloniale Abhängigkeiten, Zusammenarbeit mit diktatorischen Regimen, Waffenexporte, Umweltzerstörung usw.). Zugleich wird die GFK massiv ausgehöhlt, weil in den vermeintlich sicheren Drittstaaten kein Zugang zu einem Flüchtlingsstatus nach der GFK gegeben sein muss und grundlegende soziale und politische Rechte für Flüchtlinge nicht garantiert sind. Es ist unklar, inwieweit Drittstaaten überhaupt dazu bereit sein werden, Schutzsuchende aus der EU zu übernehmen, was Voraussetzung für die Anwendung der Drittstaatenregelung ist. Der EU-Türkei-Deal war mit viel Leid für Geflüchtete verbunden und hat ein undemokratisches Regime gestärkt. Es drohen weitere solcher Abkommen, mit denen die EU ihre außenpolitische Glaubwürdigkeit weiter einbüßen wird.
Themen: Flucht & Asyl

6

Arbeitskräftemangel gibt es in der EU in vielen Branchen und für unterschiedliche Qualifikationsniveaus. Das Fehlen legaler Migrationswege für Geringqualifizierte ist eine Ursache für unbegründete Asylanträge. Befürworten Sie eine Öffnung von legalen Migrationswegen auch für geringer Qualifizierte?
Ja. Auch gering qualifizierte Menschen sollten die Chance zur Erwerbsmigration erhalten. Das kann und sollte mit Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen in Deutschland verbunden sein, damit die Betroffenen Beschäftigungsmöglichkeiten über den Niedriglohnbereich hinaus haben. Klar ist, dass Arbeitgeber diese Migrationswege nicht dazu nützen dürfen, geltende Lohn- und Sozialstandards zu unterlaufen. Verbesserungen muss es auch bei der schnelleren und unkomplizierten Anerkennung von im Ausland erworbenen Abschlüssen und Qualifikationen geben. Viele in Deutschland als "Unqualifizierte" arbeitende Migrant*innen verfügen tatsächlich über großes Wissen, Erfahrung und Fertigkeiten, die lediglich nicht formal anerkannt wurden. Einwanderungsmöglichkeiten für gering Qualifizierte stellen auch einen Ausgleich dar zur Anwerbung von Hochqualifizierten, die bereits seit langem praktiziert wird. Denn diese kann (muss nicht) dazu führen, dass in den Herkunftsländern dringend benötigte Fachkräfte fehlen (etwa medizinisches Personal), obwohl die hohen Kosten der Ausbildung dieser Menschen von den Herkunftsgesellschaften getragen wurden. Es müssen deshalb Wege gefunden werden, wie die Erwerbsmigration im besten Interesse aller Beteiligten (der Migrierenden, der Aufnahme- und Herkunftsländer) ausgestaltet werden kann.

7

Sollen Organisationen wie UNHCR, IOM und das Welternährungsprogramm, die Flüchtlingslager und -unterbringungen organisieren, für diese Zwecke mehr finanzielle Unterstützung von der EU erhalten?
Grundsätzlich ist eine ausreichende und verlässliche finanzielle Absicherung des UN-Welternährungsprogramms und des UNHCR von großer Bedeutung. Kürzungen des Welternährungsprogramms haben schon in der Vergangenheit dazu beigetragen, dass Geflüchtete nicht in ihren Erstaufnahmeländern (häufig den Anrainerstaaten von Herkunftsländern) bleiben konnten und z.B. nach Europa weiterflohen - oder unter großen Gefahren zwangsläufig in ihre Herkunftsländer zurückkehren mussten. Die aktuell äußerst angespannte Lage etwa im Libanon zeigt, wie wichtig die finanzielle Unterstützung dieser Länder bzw. von entsprechenden Hilfsprogrammen und -organisationen ist. Kritisch sehen wir die Rolle von IOM, insbesondere wenn es um die Aufrechterhaltung und den Betrieb von Aufnahmelagern oder um Programme zur Rückkehr geht. Hier droht eine unkritische Indienstnahme für eine Politik der Entrechtung von Geflüchteten.
Themen: Flucht & Asyl

8

Sollten Ihrer Meinung nach die Resettlement-Kontingente in der EU erhöht werden?
Ja. Resettlement-Aufnahmen stellen einen der wenigen legalen und sicheren Wege für Geflüchtete in die EU dar und müssen deshalb ausgeweitet werden. Der vom UNHCR gemeldete Bedarf an Resettlement-Aufnahmen übersteigt die vergleichsweise wenigen angebotenen Plätze bei weitem. Die Aufnahme im Resettlement-Verfahren darf aber nicht eine verschärfte Politik der Abschottung legitimieren, wie es derzeit häufig geschieht: Das individuelle Asylrecht verlangt es, dass Schutzsuchende einen effektiven Zugang zu fairen Asylverfahren erhalten, wenn sie die Grenzen der EU erreichen. Die Resettlement-Aufnahme ergänzt also das individuelle Asylrecht, das uneingeschränkt gewährleistet werden muss, und ersetzt es nicht.
Themen: Flucht & Asyl